„Ich kann es noch nicht beschwören, aber wie es aussieht, bekommen Sie ein kleines Mädchen!“ Die Frauenärztin schaut mich erwartungsvoll an. „Oh“, sage ich. „Scheiße“, denke ich.
Aus Gründen, die sich mir selbst im Nachhinein nicht mehr erschließen, war ich überzeugt, einen männlichen Fötus zu beherbergen. Ich hätte wissen müssen, dass ich falsch liege. In solchen halb-spirituellen intuitiven Dingen liege ich immer falsch. Nun. Also ein Mädchen. Ich löse meinen Blick vom Monitor, der eine komische kleine Kartoffel mit puckerndem Herzen zeigt, und sehe der Frauenärztin ins Gesicht. „Toll. Ein Mädchen“, sage ich apathisch, und sie lächelt. Den Mann schaue ich nicht an, aber ich spüre, dass er ebenfalls lächelt. Warum auch immer.
Auf dem Heimweg bleibe ich stumm. Die erklärenden Sätze, die ich in meinem Kopf forme, klingen allesamt undankbar oder neurotisch oder beides. Schließlich habe ich auf Nachfrage immer behauptet, es sei mir schnurz, welches biologische Geschlecht das Kind habe, meinetwegen könne es auch gar keins haben. Das war gelogen. Ganz hinten im Kopf habe ich mir einen Jungen gewünscht. Ohne jemals darüber nachzudenken, damit meine naive Wunschblase nicht platzt. Es dauert ein paar Tage, bis ich meine Enttäuschung dem Mann gegenüber artikulieren kann. Der Mann ist nicht enttäuscht und auch nicht überrascht oder sonstwas – der freut sich einfach. Ich staune, weil er anscheinend so gar keine heimlichen Erwartungen gehegt hat. Einige weitere Tage vergehen, und dann freue mich mich mit, weil da echt ein Kind kommt, wirklich zu uns kommt, endlich unterwegs ist, und wir es nun mit Namen nennen können.
Warum ich kein Mädchen wollte, das muss ich wahrscheinlich erklären. Muss ich nicht, aber ich will es erklären, weil ich es wichtig finde. Die kürzeste und unbedarfteste Fassung lautet: Ich will „das“ nicht für mein Kind. Das, was das Mädchensein, und später das Frausein, fast zwingend mit sich bringt. Das, was ich am eigenen Leib und Herzen erfahre, wie so viele andere Mädchen und Frauen vor mir und mit mir.
Mein Mädchen, meine Tochter, mein Kiddo, ist in eine Welt geboren, die Frauen nicht besonders mag. Nehmen wir mal den Arbeitsmarkt. Da werden Frauen offenbar nicht geschätzt. Wie sonst können wir es erklären, dass wir auch heute noch 22% weniger Geld für die gleiche Arbeit bekommen als Männer? Wie sonst können wir es erklären, dass Frauen der Zugang zu Machtpositionen mit mehr und minder subtilen Mitteln verstellt wird? Wie sonst können wir es erklären, dass es mehr erfolgreiche Studentinnen als Studenten an den Unis gibt, letztere aber am Ende die schicken Vorstandsjobs absahnen? Wie sonst können wir erklären, dass die unendlich wichtigen Pflegeberufe, die hauptsächlich Frauen ausüben, so schlecht entlohnt werden? Und das sind nur wenige, willkürliche Beispiele.
Der Beruf ist also ein Lebensaspekt, der mit großer Wahrscheinlichkeit dem Mädchen-Kiddo weniger Chancen bietet als einem Jungs-Kiddo. Aber sonst ist doch alles supi, so im Privaten, ja? Nein. Ist nicht supi. Ein Mädchenhirn zu haben ist eine Sache – aber dazu gehört ja meist ein Mädchenkörper. Und auch der wird in unserer Gesellschaft nicht respektiert. Wie sonst können wir es erklären, dass der weibliche Körper als halböffentliches Eigentum durchgeht, das nach Herzenslust kommentiert, beglotzt und sogar angefasst werden darf? Wie sonst können wir es erklären, dass die Fallrate von Vergewaltigungen, die vor Gericht verhandelt UND verurteilt werden, im einstelligen Prozentbereich liegt? Wie sonst können wir es erklären, dass schon die Figuren kleiner Mädchen als Projektionsfläche für vermeintliche Schönheitsnormen dienen? Wieder sind dies nur wenige, willkürlich gewählte Beispiele.
Ja nun – aber in der Familie, da sind wir doch heute gleichberechtigt? Da machen doch die PartnerInnen unter sich aus, wie sie ihre Lohn- und Familienarbeit verteilen möchten? Hm, nein. Wie es scheint, wird der weibliche Einsatz auch hier nicht angemessen honoriert. Wie sonst können wir es erklären, dass Frauen im Haushalt trotz eigener Erwerbstätigkeit deutlich mehr arbeiten als Männer? Wie sonst können wir es erklären, dass die Frauen, die viel Sorgearbeit verrichten, weil der Gatte eben mehr Geld verdient (da schließt sich ein Kreis), dafür mit Altersarmut bestraft werden? Gleichberechtigung in der Partnerschaft: Das ist ein so komplexes Thema, dass es eigentlich viel mehr Platz braucht.
Die Köpfe und Körper von Mädchen und Frauen müssen eine Menge Druck aushalten. Sie werden kategorisiert, bewertet, geformt. Auch wenn sie noch ganz, ganz klein sind. In den letzten 11 Monaten wurde ich zum Beispiel mehrfach darauf hingewiesen, dass meine Tochter ja „sehr wild sei für ein Mädchen“, dass ich sie ja gar nicht anzöge „wie ein Mädchen“ oder dass sie bestimmt mal „den Jungs den Kopf verdrehen wird mit ihren großen Augen“. Dieses ganze Elend der Geschlechterstereotype funktioniert, möchte ich hinzufügen, natürlich auch wunderbar in die andere Richtung, wie glücklich scheitern hier eindrucksvoll beschreibt.
Auch scheint es eine seltsame Front in vielen Köpfen zu geben, die heißt „Mädchenmütter vs. Jungsmütter“. Da werden Phrasen gedroschen, dass es nur so kracht: Mädchen sind viel emphatischer und sowieso „einfacher“ zu erziehen, die Jungs können hingegen auch mal was ab, Mädchen sind aber auch so empfindlich, Jungs sind so laut, bla bla bla blaaaaa. Ich muss immer sehr an mich halten, um der Gesprächspartnerin keine Kopfnuss zu verpassen und zu brüllen „Ey, jetzt hör doch mal auf mit dem Scheiß!!!11!!“ Denn Scheiß ist es. Scheiß, der unsere Kinder verformt und maßregelt, beschränkt und verletzt.
Wie ich meiner Tochter den Mädchenscheiß ersparen kann, weiß ich natürlich nicht. Verrückte These: Ich kann ihr nichts ersparen. Ich kann höchstens meinen kleinen Teil dazu beitragen, dass sie ein selbstbewusster Mensch wird, der seine Grenzen und Möglichkeiten gut kennt. Ich kann ihr zeigen, dass wir schön sind, wie wir sind. Ich kann niemals in ihrer Gegenwart schlecht über meinen Körper und meinen Kopf sprechen. Ich kann sie darin bestärken, „anders“ zu sein, wenn sie das möchte. Ich kann ihr beibringen, wie man ein gutes Gehalt verhandelt und wie man sich nicht dafür rechtfertigt. Ich kann ihr vorleben, dass es sich lohnt, sich für Menschen und Überzeugungen einzusetzen, immer und immer und immer wieder. Ich kann ihr vormachen, wie man trotzig bleibt.
Viel ist das wohl nicht, denke ich. Aber vielleicht ist es ein Anfang.
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